12 30. INTERNATIONALES BACHFEST 30. April 2024 Fortsetzung des Interviews: «Die Blockflöte ist ein sehr ehrliches Instrument» «Musik & Theater»: Sie sind dafür bekannt, alle Epochen zu mögen und darin keine Unterschiede zu machen. Erik Bosgraaf: Die Tatsache, dass wir heutzutage Musik spielen, die vor drei- bis vierhundert Jahren aktuell war, ist an sich eine – philosophisch gesehen – postmoderne Aktivität. Wir können nicht wissen, wie die Stücke damals wirklich geklungen haben, da wir von dieser Zeit keine Aufnahmen besitzen. Das ist vielleicht auch unser Glück. Wir müssen also diesbezüglich vorgehen wie ein Sherlock Holmes und herauskriegen, wie es unserer Ansicht nach geklungen hätte. Aber wenn wir dies nur wissenschaftlich tun, erhalten wir eine sehr trockene Aufführung. Es muss auch eine persönliche Note dazukommen, um mit diesen historischen Daten umzugehen. Dabei gibt es die neue Musik ja nur, weil sie eine Beziehung zur älteren Musik hat. Zwölftonmusik gibt es nur, weil es davor die tonale gab. Man kann die beiden Sachen nicht getrennt und isoliert voneinander sehen: historische und zeitgenössische Musik. Die beiden Dinge sind wechselseitig aufeinander bezogen. Sie sind einer der wenigen, die alte und neue Musik im Konzert zusammenbringen. Bosgraaf: Gerade die Blockflöte eignet sich mit ihrer speziellen Geschichte in besonderem Masse dazu, die alte und neue Musik zusammenzubringen. Zumal sie auch nun im 21. Jahrhundert immer noch bekannt ist. Es ist eher seltener, neue Musik auf der Barock-Violine zu spielen. Dabei muss ich auch sagen, wenn ich die zwei Sachen kombiniere, ist das Hauptgericht immer die alte Musik. Und das bedeutet: Es ist dann kein Drama, wenn man den Teil mit neuer Musik nicht mag (lacht). Und es geht einfach darum, etwas Abenteuerliches zu erleben. Schliesslich gibt es auch einen Teil des Pub- likums, der sich von vorneweg dafür interessiert. Wir spielen den Teil mit neuer Musik dann immer noch auf den alten Instrumenten und das bedeu- tet, dass der Klang immer noch im Ohr ist. Das heisst quantitativ, dass – in einem Konzert mit der Gesamtlänge von 75 Minuten – der Abschnitt mit Neuer Musik zirka 15 Minuten beträgt. Für Schaffhausen haben Sie ja auch eine Kombination von alter und neuer Musik im Gepäck und bringen Kompositionen von Matijs de Roo, Victoria Vita Poleva und natürlich Bach auf die Bühne. Bosgraaf: Dabei ist in diesem Fall noch ein politischer Hinter- grund zu erwähnen. Die Geschichte des Bachfestes umfasst auch, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Taufe gehoben wurde, da es seit 1946 veran- staltet wird. Um nun mit Victoria Vita Poleva einer ukrainischen Künstlerin eine Uraufführung zu er- möglichen, steckt auch ein Friedensgedanke dahin- ter. Ich glaube, Debussy sprach von der «Revolution in Seiden-Handschuhen». Niemand im Publikum möchte beim Konzert mit einer «kalten Dusche» überrascht werden. Aber ich glaube, die Leute sind schon experimentierfreudiger, als viele Programm- veranstalter denken. Man muss das Gesamtpaket aber in so einer Art und Weise präsentieren, dass es passt. Mein Musiklehrer hat immer gesagt: Die Leute hören sich neue Musik lieber an, wenn man vor der Pause ältere Werke spielt. Dann hat man sich als Künstler auch die Glaubwürdigkeit dazu bereits erarbeitet, denn es geht dabei auch sehr um die Art und Weise, worauf man dies alles aufbaut. Ich spiele zwar auch Programme mit ausschliesslich Neuer Musik, aber dann ist ein anderes Publikum vor Ort. Lassen Sie uns über Ihre zwei Programm- punkte mit Neuer Musik sprechen:Matijs de Roos «Sotto Voce» und Victoria Vita Polevas Uraufführung «Concerto für Ukrainische Flöte und Barockorchester». Bosgraaf: Matijs de Roo gehört zu einer neuen Generation von Komponisten. Ich kenne ihn schon sehr lan- ge, denn er hat bereits grosse Aufführungen für die Concertgebouw Gesellschaft geschrieben. Und doch ist es für viele Komponisten schwie- rig, international den Durchbruch zu schaffen. Es gibt zum Beispiel auch Komponisten, die fast ausschliesslich in Deutschland bekannt sind, wo ich merke, die kennt man in den Niederlanden kaum. Matjis ist kein Avantgardist, dieses Label würde für ihn nicht passen, denn z.B. sein Werk «Sotto Voce» ist ein sehr schönes, tonales Stück. Erik Bosgraaf: «Gerade die Blockflöte eignet sich mit ihrer speziellen Geschichte in besonderem Masse dazu, die alte und neue Musik zusammenzubringen.» Bild: Marco Borggreve
30. April 2024 30. INTERNATIONALES BACHFEST 13 Erik Bosgraaf am Bachfest Konzert Nr. 3: «Neue Concerti» Donnerstag, 9. Mai, 17 Uhr Bergkirche Wilchingen Collegium Musicum Riga Erik Bosgraaf, Blockflöte und Leitung Mit Werken von J. S. Bach, Matijs de Roo und Victoria Vita Poleva Preise: CHF 90.– / 60.– / 20.– Dauer: ca. 120 Minuten, inkl. Pause Tickets unter bachfest.ch «Die Leute hören sich neue Musik lieber an, wenn man vor der Pause ältere Werke spielt.» Bild: Marco Borggreve ihm – die «so» von Bach aber gar nicht komponiert wurden. Klären Sie uns auf! Bosgraaf: Dabei handelt es sich um eine historische Rekonstruktion. Wir wissen, dass viel Musik von Bach verloren gegangen ist, vor allem in seiner Köthener Zeit, wo er am meisten instrumentale Musik geschrieben hat. Wir können sehen, dass viele Arien, die Bach komponiert hat, von der Instrumental- musik her inspiriert und instrumental konzipiert sind. Deshalb erleben wir in den Konzerten, dass die Sänger immer mit der Menge der Noten, die Bach für sie schrieb, kämpfen. Ich glaube, die Trennung von instrumental und vokal, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert geschah, war zu Bachs Zeit noch nicht da. Und es ist ein leises Stück, das über seine innere Verbindung funktioniert. Alle Töne werden von anderen Instrumenten übernommen und es stellt somit insgesamt ein sehr fragiles Gewebe dar. Ich glaube, es gibt viel moderne Musik, die für den Zu- hörer nicht berührend ist. Sie besitzt andere Ei- genschaften, ist vielleicht interessant, provokant oder stellt Fragen. Das finde ich alles auch berech- tigt und wichtig. Die Musik von Matijs de Roo ist dagegen oft berührend und das ist es, was ihn von anderen unterscheidet. Er passt fast ein bisschen in Richtung Wolfgang Rihm. Und was ist für Sie das Herausragende beim Konzert von Victoria Vita Poleva?. Bosgraaf: Bei dem Werk von Victoria handelt es sich um ein Auftragswerk der Bachgesellschaft Schaffhausen. Ich hatte Victoria Vita Poleva noch vor dem Krieg in Kiew kennengelernt, als ich dort aufgetreten bin und sie schon ein Stück für mich geschrieben hatte: für Blockflöte und Cembalo. Das war ein Konzert in einem ehemaligen Nuklear-Bunker, was heutzu- tage absurd klingt, besonders wenn man jetzt darüber nachdenkt. Mittlerweile spiele ich eigentlichbei jedem Auftritt als Zugabe auf einer ukrainischen Flöte, denn das ist meine Weise, um gegen die verschwindende Aufmerksamkeit für den Krieg anzugehen. Ich habe auch das Gefühl, dass man als Künstler vor fünf Jahren noch unpolitischer sein konnte, und dies war ich damals auch. Aber ich wer- de immer politischer. Das Bachfest besitzt ebenfalls eine Tradition für Uraufführungen, da habe ich Victoria vorgeschlagen. Erstens, weil sie eine sehr gute Komponistin ist, ich habe auch vor dem Krieg ja schon Stücke von ihr gespielt, und zweitens wohnt sie jetzt ja in der Schweiz. Das ist noch eine weitere Beziehung. Und ich fand es auch interessant, dass sie ihren eigenen Hintergrund mit einem Stück in Beziehung setzt. So sind wir darauf gekommen, das mit der ukrainischen Flöte zu verbinden. Welches Orchester wird Sie begleiten? Bosgraaf: Es spielt das Collegium Musicum Riga mit mir zusammen. Ich habe auch die letzte CD mit Bach- Konzerten mit diesem hervorragenden Klangkör- per aufgenommen. Sogar das könnte man politisch betrachten, denn die baltischen Staaten werden ebenfalls von Russland bedroht. Und deshalb passt es zusammen mit der Ukraine. Lassen Sie uns zum Schluss über Bach sprechen. Sie spielen unter anderem zwei sogenannte Aria Concertos von Die jeweils drei Sätze der beiden Aria Concertos haben Sie aus drei verschiedenen Kantaten zu einem neuen Konzert zusammengestellt? Habe ich das so richtig verstanden? Bosgraaf: Ja, und auch eine Sinfonia habe ich hier und da mit hineingenommen; denn es gibt ja auch viele Instrumental-Passagen in den Kantaten, wie zum Beispiel die Sinfonia aus dem Oster-Oratorium. Wenn man sich die Kantaten ansieht, hat man das Gefühl, als ob sich für so ein Unternehmen gewisse Arien regelrecht anbieten. Das ist natürlich eine sehr subjektive Auswahl, doch bei mir sind das alles Noten von Bach. Denn mit den Stücken in Schaffhausen ging es mir wirklich darum, diese so überzeugend wie möglich zu verweben, damit der Zuhörer den Effekt erlebt, als hätte man neue Werke von Bach entdeckt, die nun beim Bachfest 2024 zum ersten Mal aufgeführt werden.
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